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„Manche Qualitätswerkzeuge kommen an ihre Grenzen“

DGQ-Chefin im Interview
„Manche Qualitätswerkzeuge kommen an ihre Grenzen“

„Manche Qualitätswerkzeuge kommen an ihre Grenzen“
Claudia Welker kritisiert die Überregulierung in der Automobilindustrie Bild: DGQ
Claudia Welker ist geschäftsführendes Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Qualität (DGQ). Im Interview erklärt sie, wie und warum die DGQ sich wandeln muss, wie sie die Zukunft des Audits sieht und weshalb Qualitätsverantwortliche ein Leben lang lernen sollen.

Frau Welker, Sie sind seit knapp zwei Jahren geschäftsführendes Vorstandsmitglied der DGQ. Mit welchen Zielen sind Sie angetreten und wie weit sind Sie damit bis jetzt gekommen?

Claudia Welker: Ich bin begeistert von dem Thema Qualität. Und wir haben mit der Deutschen Gesellschaft für Qualität eine ganz starke Marke. Aber viele bringen uns vor allem mit Qualitätsmanagement im klassischen Sinne in Verbindung. Für mich umfasst Qualität jedoch viel mehr. Es hat etwas mit dem Bewusstsein von Menschen und Organisationen zu tun. Und Qualität hat auch immer stärker eine gesellschaftsrelevante Dimension. Deshalb wollen wir auch gesellschaftspolitische Themen besetzen und Brücken bauen. Es geht also um Fragen wie zum Beispiel „Was hat Qualität mit Nachhaltigkeit zu tun? Was hat Qualität in der digitalen Welt für eine Funktion? Wie muss sich Qualität verändern?“ Manche Q-Werkzeuge kommen hier einfach an ihre Grenzen.

Auch die DGQ muss sich also wandeln?

Welker: Wie viele andere Organisationen müssen wir uns neu ausrichten. Es gilt auch für uns, dass wir uns noch besser auf die Bedürfnisse unserer Mitglieder, Kunden und Partner einstellen müssen. Das Dach der DGQ bildet der Verein. Und Vereine müssen sich schneller und konsequenter mit digitalen Technologien, Plattformen und Kanälen auseinandersetzen, die es Netzwerken ermöglichen, sich auch virtuell zu treffen und auszutauschen. Vereine sind soziale Netzwerke, die auf Kollaboration basieren. Sie bieten damit Menschen sowohl eine fachliche als auch emotionale Heimat sowie einen Austausch, der in dieser Form sonst nirgendwo möglich ist.

Das heißt konkret?

Welker: Wie alle Vereine leben wir von großartigen und sehr engagierten ehrenamtlichen Mitgliedern, die ihre Themen beispielsweise in über 60 Regionalkreisen oder in rund zehn Fachkreisen einbringen. Im Moment tun sie dies vor allem auf Präsenzveranstaltungen. Dieser zwischenmenschliche Austausch wird weiterhin gebraucht, gestärkt und bildet auch künftig die Basis. Aber daneben wollen wir künftig auch die Vorteile der Digitalisierung nutzen, um neue Formen und Formate zu schaffen, durch die Wissen anders verfügbar wird. An dem „Wie“ arbeiten wir gerade sehr intensiv und diskutieren es teilweise auch sehr engagiert. Mehr kann ich aber leider noch nicht verraten.

Es geht also vor allem um Technologien.

Welker: Technologien sind sicherlich ein wichtiger Aspekt. Wir müssen aber auch lernen, lauter zu werden, vielleicht auch provokanter und uns neue Positionen für eine neue Zeit erarbeiten. Das tun wir zum Beispiel gerade mit dem klassischen Thema Audit. Denn viele Firmen berichten uns zurzeit, dass sie mit der herkömmlichen Art, interne Audits durchzuführen, nicht mehr weiterkommen. Der Aufwand ist hoch, der Nutzen sehr gering. Deswegen haben wir das Projekt „Anders Auditieren“ gestartet. Doch auch gesellschaftlich relevante Themen, bei denen wir durch „Qualität“ eine neue Perspektive in die bestehende Diskussion einbringen können, wollen wir stärker besetzen. So schaffen wir eine größere Öffentlichkeit für das wichtige Thema „Qualität“.

Was ist das Problem mit dem Audit?

Welker: Viele aus unserem Netzwerk sagen uns: „Unsere Audits zeigen uns längst keine signifikanten Verbesserungspotenziale mehr, obwohl wir wissen oder auf anderen Wegen erfahren, dass es sie gibt.“ Zwar gelten Prozessaudits als modern. Doch reife Unternehmen erkennen und heilen Probleme in und mit Prozessen sehr schnell selbst und oft unabhängig vom Audit. Gestörte Interaktion zwischen Menschen ist aber dort weiterhin oft eine Problemquelle, die Mitarbeiter im klassischen Audit bewusst verbergen. Unsere Schlussfolgerung war, wir müssen im Audit auf andere Dinge und anders auf die Dinge schauen. Wir müssen „anders Auditieren“, die alten Auditrituale durchbrechen.

Was bedeutet „anders auditieren“?

Welker: Wir haben dazu mit unserem Mitglied Vorwerk ein Pilotprojekt gestartet. Dessen Leiter QM Audit hat mit einem DGQ-Experten in mehreren Durchgängen ein Auditverfahren getestet, das sich auf sozialwissenschaftliche Techniken der teilnehmenden Beobachtung und sogar auf Wissen der Ethnologie – insbesondere der Ethnografie – stützt. Die Auditteams berichten, dass sie signifikant mehr Potenziale von den Mitarbeitern gezeigt bekamen, als bei den durchaus methodisch reifen früheren Auditverfahren. Die Mitarbeiter, die beispielsweise in der Fertigung arbeiten, waren davon erst mal überrascht. Sie haben sich aber auch gefreut, dass ihre Einschätzung und Bewertung maßgeblich ist. Das hat etwas mit Wertschätzung zu tun. „Anders auditieren“ ist bislang ein Arbeitstitel. Die alte Art zu auditieren, stößt jedenfalls an ihre Grenzen, wenn man Audits nicht nur zur Konformität nutzen möchte. Nachdem wir uns derart mit dem Verbesserungspotenzialaudit befasst haben, gehen wir als nächstes daran, auch innovative neue Ansätze für das Konformitätsaudit zu finden. Übrigens schränken uns die Normen dabei überhaupt nicht ein.

Das Thema ist allerdings noch schwer zu greifen. Ebenso wie agiles Qualitätsmanagement, das ebenfalls von der DGQ in die öffentliche Diskussion gebracht wird.

Welker: Wir arbeiten daran, diese Themen greifbarer zu machen. Das gelingt uns Schritt für Schritt gemeinsam mit den Mitgliedern in unseren Fachkreisen, beim DGQ-Brennpunkt oder beim DGQ-Qualitätstag. Am Anfang steht die Befähigung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Wir als DGQ können den Menschen einen Impuls geben, wie agile Methoden zur Verbesserung der Reaktions- und Leistungsfähigkeit des Qualitätsmanagements eingesetzt werden können. Leider erhalten wir von Teilnehmern als Feedback zu ihrer Realität im Unternehmensalltag: „Das finden wir spannend, aber unsere Unternehmenskultur und die zu erfüllenden Vorgaben lassen das nicht zu.“ Deswegen ist es umso wichtiger, dass sie mit der DGQ eine Anlaufstelle haben, um agile Methoden in unterschiedlichen Formaten ausprobieren zu können.

Was ist der Grund für die Zurückhaltung der Unternehmen?

Welker: Nehmen wir als Beispiel die Automotive-Industrie. Die Branche ist sehr stark reglementiert. Für kleinere Organisationen wird es dann schwierig, sich neben der Erfüllung von formalen Anforderungen die nötigen Freiräume für kreative Ansätze zu schaffen. Hier stellt sich die Frage, ob das vorhandene System der Überregulierung die angestrebte Sicherheit schafft. Ist oft nicht das Gegenteil der Fall, dass Menschen in Organisationen alternative Wege suchen, um die Vorgaben zu umgehen? Diese Kreativität und Energie könnten sie doch viel besser in wertschöpfende Projekte lenken.

Das hört sich an wie die Aussagen einer der vielen Unternehmensberatungen. Was sind denn die speziellen Stärken, welche die DGQ einbringen kann?

Welker: Wir sind in erster Linie ein gemeinnütziger Verein, der durch Vernetzung und Erfahrungsaustausch Wissen entwickelt und zur Verfügung stellt. Das ist eben ein Nutzen, den wir unseren Mitgliedern bieten. Daneben bieten wir natürlich auch Beratungsdienstleistungen an. Das liegt nahe, denn im Netzwerk der DGQ sind sehr viele, darunter auch seltene Kompetenzen versammelt. Bei der DGQ kombinieren wir Organisationsentwicklungsarbeit mit unserem Netzwerkwissen über Qualitätskultur und Management-Systeme. Die Firmen unserer Mitglieder stellen ein Produkt her oder bieten eine Dienstleistung. Wir können ihnen sagen, was sie im Bereich Qualität tun müssen, damit ihnen das gut gelingt. Wir besitzen ein fundiertes Wissen über Management-Systeme. Solche Systeme geben eine Hilfestellung für eine systemische und strukturierte Vorgehensweise. Außerdem muss man Menschen qualifizieren. Die Mitarbeiter müssen wissen, was das Unternehmen konkret unter Qualität versteht, welche Methoden es dafür anwendet und welchen Beitrag das Qualitätsmanagement leisten kann.

Sie haben eingangs gesagt, dass die Werkzeugeder Qualitätssicherung an ihre Grenzen kommen. Was meinen Sie damit?

Welker: Die bestehenden Werkzeuge müssen weiterentwickelt werden. Denn Entwicklungsprozesse müssen in immer kürzerer Zeit erledigt werden. Produktinnovationen kommen schneller und rudimentärer als früher auf den Markt, als sogenanntes Minimum Viable Product. Und wenn wir dann Methoden einsetzen, die erst am Ende einer langen Kette feststellen, ob ein Produkt fehlerhaft ist oder überhaupt der Kundenerwartung entspricht, wird es schwierig, im Wettbewerb zu bestehen. Sicherlich sind klassische Q-Methoden wie beispielsweise eine FMEA auch zukünftig notwendig. Aber unsere Q-Werkzeuge müssen die neuen Anforderungen der Produktentwicklung abbilden können. Und sie müssen digitaler werde, um in immer stärker digitalisierten Prozessen und immer besser vernetzt zum Einsatz kommen zu können. Auch die Kompetenz, mit Daten der gesamten Lieferkette arbeiten zu können, ist heute unabdingbar und hat Einfluss auf die Weiterentwicklung der Q-Methoden.

Das heißt?

Welker: Es entstehen neue Berufe wie beispielsweise der Data Scientist. Ein Datenwissenschaftler, der Mathematik, Statistik und IT beherrscht. Über alle diese Kompetenzen müssen die Qualitätsverantwortlichen in Unternehmen zwar nicht verfügen, aber sie müssen die Möglichkeiten kennen und die aus Daten gewonnene Erkenntnisse verstehen. Lebenslanges Lernen ist deshalb nicht nur ein Schlagwort sondern Eigenverpflichtung. Dazu gehört ebenfalls das „Entlernen“ und veraltetes Wissen abzulegen und loszulassen. Aus mir wird nie eine Programmiererin werden. Aber ich muss verstehen, was ich damit erreichen kann.

Wie geht die DGQ dieses Thema Digitalisierung an?

Welker: Wir entwickeln gerade ein Kompetenzmodell für die Digitalisierung, das wir beim diesjährigen DGQ-Qualitätstag vorstellen werden und schaffen die Verbindung von High-End-Technologien zur Qualität. Wir zeigen damit auf, welche digitalen Kompetenzen all die benötigen, die in Qualitätsfunktionen oder in ganz anderen Unternehmensfunktionen an der Qualität arbeiten. ■


Der Autor

Markus Strehlitz

Redaktion

Quality Engineering



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