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Qualität entsteht aus der Vernetzung – neue Ansätze für die Qualitätssicherung in der Supply Chain

Qualität entsteht aus der Vernetzung – Neue Ansätze für die Qualitätssicherung in der Supply Chain

Die vermeintlich fragilen und linearen Lieferketten sind in Wirklichkeit robuste, verzweigte Netze. Diese Sicht auf die Liefernetze hilft, ihre moderne Rolle in der digitalen Disruption neu zu verstehen. Qualität entsteht in diesen Liefernetzen nicht als Summe der Qualitätsbeiträge der einzelnen Lieferanten, sondern aus einer aktiven Vernetzung der beteiligten Menschen heraus. Neue Organisationsformen und vernetzungsroutinierte Mitarbeiter fördern eine lieferantenübergreifende Qualitätssicherung.

Die Kette, die in Wirklichkeit ein Netz ist

Schon der Begriff Supply Chain, Lieferkette, ist eigentlich irreführend. Er suggeriert eine Linearität und Unidirektionalität, die in Wirklichkeit nicht existiert und nie existiert hat. Denn Lieferanten sind in weitverzweigte Netze eingebunden, in denen viele von ihnen gleichzeitig Lieferant und Kunden sind. Im Extremfall sind sogar Unternehmen in diesem Netz einander gleichzeitig Lieferant und Kunden.

Die Metaphern Kette und Netz sind gut geeignet, reale Effekte zu veranschaulichen. Löst man irgendein Glied aus der Kette, ist die Kette zerbrochen und kann ihre Funktion nicht mehr erfüllen. Löst man einen Knoten aus einem Netz, bleibt die Funktion des Netzes erhalten. Ist es ein wichtiger Knoten, einer von dem wichtige oder zahlreiche Stränge ausgehen, ist auch dies durchaus ein Problem.

Am Beispiel des Automotive-Netzes, des größten und eines der komplexesten der Welt, lässt sich ein aktueller Effekt der digitalen Disruption aufzeigen. In der Betrachtung als automobile Lieferkette sind die OEM (Original Equipment Manufacturer), die Automobilhersteller, am Ende der Kette. Die Kette verzweigt sich natürlich mannigfaltig und global sind zehntausende Lieferanten dutzender Ebenen darin eingebunden. Ohne OEM ist die Kette irrelevant, läuft ins Nichts.

In der Betrachtung als automobiles Liefernetz hingegen verändert sich die Metaphorik signifikant. Die OEMs sind dort Knoten inmitten des Netzes: Sehr starke Knoten mit vielen Verbindungen zu anderen starken Knoten, die ihre First-Tier-Supplier – die Lieferanten der ersten Ebene – darstellen. Löst man jetzt die OEMs aus dem Netz, entstehen große Lücken, aber das Netz bleibt erhalten und funktionsfähig.

Sieht man nicht das Produkt “Automobil” als Zweck der Vernetzung, sondern die Leistung “Mobilität”, wird folgendes deutlich: Das Netz wird fehlende Knoten substituieren oder sich um die Lücken herum durch neue Verbindungen wieder verdichten, auch wenn dies das ganze Netz selbst deutlich verändern wird. Genau diese Entwicklung schreitet längst voran. Einige Knoten sind bereits aus dem Netz verschwunden (Rover, Saab, …), neue sind entstanden (Tesla, Byton, …). Die Elektrofahrzeughersteller benötigen weniger und andere Teile als die Hersteller der Fahrzeuge mit Verbrennungsmotor. Einerseits versuchen Lieferanten ihre Diversifizierung auszubauenund neben Teilen für den klassischen Antrieb auch Teile für die neuen Antriebsformen zu liefern. Andererseits versuchen sie die Substitution zu leisten, also eigene Mobilitätskonzepte marktreif zu machen (Siemens Mobility, Google…). Selbstfahrtechnologien entwickeln und testen nicht nur die klassischen Automobilhersteller, sondern viele weitere Unternehmen. Darunter auch viele, die längst Teil des Liefernetzes Mobilität sind und solche, die neu eintreten und damit neue Verbindungen und Knoten bilden.

Qualität entsteht aus der Vernetzung

Schon innerhalb eines Unternehmens müssen sich Menschen vernetzen, um gemeinsam Qualität, Innovation und Leistung zu erbringen. Qualität kann nur aus der Vernetzung heraus entstehen. Mit ihrer Aufbauorganisation und ihren Projektstrukturen geben Unternehmen einen Rahmen für Vernetzung vor, indem sie Teams definieren und in Hierarchien einbauen. Die Hierarchien prägen auch die formellen Berichts- und Entscheidungswege. Darüber hinaus vernetzen sich Mitarbeiter über die Grenzen ihrer Teams und Bereiche hinweg mit Kolleginnen und Kollegen. Dies geschieht zunächst durchaus noch innerhalb der klassischen Aufbauorganisation und Hierarchie. Aber hier sind schon deutliche Veränderungen im Vergleich zu früheren Mitarbeitergenerationen erlebbar.

Die starren Grenzen und klassischen Regeln der Aufbauorganisation und ihrer Führungshierarchie schwächen in dem Maße ab, in dem in der digital vernetzten Gesellschaft sozialisierte junge Mitarbeiter sie ignorieren und umgehen. Weniger hierarchiehörig, Einschränkungen ihrer Kommunikation nicht akzeptierend und gewohnt, sich ihre Mitstreiter selbst auszuwählen, knüpfen sie Netzwerke im Unternehmen und mit ihren Partnern bei Kunden, Lieferanten und Dritten. Einige Unternehmen verändern gleichzeitig ihre Organisationsformen und lösen sich von der alten Aufbauorganisation und dünnen ihre Hierarchien aus, um agiler und innovativer zu werden. Diese Veränderungen unterstützen die nicht zentral konzipierten, sondern pragmatisch wachsenden Vernetzungen von Mitarbeitern in der Organisation und darüber hinaus.

Für die Qualität kann das von erheblichem Vorteil sein, denn in den gewachsenen Netzwerken herrschen Vertrauen ineinander und eine offene Kommunikation. Es ist leichter, Probleme und Fehler anzusprechen und es ist leichter, sich siloübergreifend zu Problemlösungen zusammenzufinden. Jeder wendet sich an die, von denen er Unterstützung erwartet, unabhängig von der eigenen und deren Verortung in einem Organigramm.

Notwendigkeit einer lieferantenübergreifenden Qualitätssicherung

So wie im eigenen Unternehmen, gilt auch im Lieferantennetz: Qualität entsteht aus der Vernetzung. Es ist eine große Herausforderung, aus einem Netzwerk dutzender, hunderter oder, wie im Beispiel Automobilwirtschaft, zehntausender Zuliefererunternehmen heraus die Einzelbeiträge für ein komplexes Endprodukt schlüssig zusammenzufügen. Normen und Branchen-Qualitätsstandards sollen dabei helfen, im Produktentstehungsprozess einen Grad von Kompatibilität zu erreichen, der solches ermöglicht. Die Standards formulieren Regeln für die Qualitätssicherung. Allerdings und trotz der Regeln gibt es viele Probleme und Fehler, die zu einer Rekordzahl von Produktrückrufen führen. In einer Studie hat die DGQ 2015 gezeigt[1], dass in der Automobilindustrie ein signifikanter Teil der Anwendung verpflichtender Qualitätsmethoden nur pro forma erfolgt und nicht wirkungsvoll ist. Es gibt eine wachsende Diskrepanz zwischen einer zunehmenden Reglementierung in der Qualitätssicherung und einer wachsenden Notwendigkeit flexibel oder sogar agil zu sein.

Zwei Ansätze helfen, die Qualitätssicherung im Netzwerk zu verbessern:

  • eine netzwerkübergreifende datengestützte Qualitätssicherung und
  • die Förderung der unternehmensübergreifenden persönlichen Vernetzung der Mitarbeiter.

Es gibt ausreichend Qualitätsdaten, um damit lieferantenübergreifend die Qualität sichern und lenken zu können, allerdings sind diese Daten nicht oder nicht ausreichend miteinander verknüpft. Es gibt zurzeit keine Instanz, die alle zusammengehörigen Daten für ein Endprodukt im Blick hat, nicht einmal die Endproduzenten. Aspekte der Sicherheit und der Eigentumsrechte stehen dem entgegen. Lieferanten wollen ihre Daten vor unberechtigtem Zugriff schützen und ihr Know-how nicht preisgeben. Doch für die damit verbundenen Fragen wird es Lösungen geben, weil die wirtschaftlichen Effekte, die Vermeidung von Verschwendung, Fehler- und Regresskosten sowie die Qualitätsverbesserung für die Kunden sehr positiv sind.

Die Förderung der persönlichen Vernetzung über Unternehmensgrenzen hinweg ist ein gar nicht zu unterschätzender Qualitätsfaktor in komplexen Liefernetzwerken. Hier bewährt sich ein Paradigma, das bereits das Manifest für die agile Softwareentwicklung formuliert: Individuen und Interaktionen sind wichtiger als Prozesse und Methoden. Die funktionierende Arbeitsbeziehung zwischen den Netzwerkern des Unternehmens, seiner Zulieferer und seines Kunden wiegen schwerer, als Prozesse und Methoden. Hierbei ist natürlich festzuhalten, dass es nicht um eine Entweder-Oder-Entscheidung geht, sondern um das Sowohl-Als-Auch. Gute Interaktion und gute Prozesse führen zur Qualität. Der vorherrschende alleinige Prozess- und Methodenfokus hingegen, der allzu oft Fälle nichtfunktionierenden Zusammenarbeit der beteiligten Menschen in zu starren Aufbauorganisationen ausblendet, reicht für die Qualitätssicherung in komplexen Systemen nicht aus, sondern wiegt in falscher Sicherheit.


[1]Erler, Kay; Sommerhoff, Benedikt (2016); Analyse der Wirksamkeit verpflichtender Q-Methoden und resultierende Erkenntnisse für ein Qualitätsmanagement 4.0 in Refflinghaus, Robert et al. (Hrsg.) (2016) Qualitätsmanagement 4.0 Status Quo! Quo vadis? – Bericht zur GQW Jahrestagung 2016 in Kassel, Kassel University Press